Auf den ersten Blick war 2020 ein eher enttäuschendes Musik-Jahr, bedenkt man, wie viele große Namen und Major-Veröffentlichungen mutmaßlich zurückgehalten oder verschoben wurden. Zurückzuführen ist dies wohl auf die fehlende Möglichkeit, die Alben auf einer Tour promoten zu können oder auch auf eine allgemein herrschende Unsicherheit. Bei Filmen mag es so gewesen sein, dass 2020 wirklich sehr wenig nennenswerte Releases zu bieten hatte, doch bei Alben wirkt das eben nur bei oberflächlicher Betrachtung so. Denn es gab durchaus sehr viel großartige Musik in diesem sonst doch eher weniger großartigen Jahr zu entdecken.
Meine persönlichen Top 15 Alben des Jahres 2020:
15. Fleet Foxes - Shore
Das vierte Album der Indie-Folk-Helden aus Seattle ist komplett von Lead-Sänger und -Songwriter Robin Pecknold geschrieben, aufgenommen und produziert worden. Auch wenn die Produktion flacher, die Arrangements weniger abstrakt und die Songs allgemein poppiger sind als auf den vorangegangenen Projekten, zeugen die träumerischen und eingängigen Melodien auf diesem wunderschönen Album vom ungebrochenen Songwriting-Talent Pecknolds.
14. Yves Tumor - Heaven to a Tortured Mind
Dieses Album lässt sich schwer in Genre-Schubladen stecken. Experimental Rock trifft es wohl noch am ehesten, und doch wird es ihm nicht ganz gerecht. Einflüsse aus Hip-Hop und elektronischer Musik der 2010er Jahre finden sich darin ebenso wieder wie Elemente aus klassischem Funk und Rock. Die Produktion ist sehr crispy und clean, Bass und Drums drücken den gesamten Sound tierisch nach vorne. Manche Synthie-Sounds sind derart verfremdet, dass sie wie Samples anmuten. Yves Tumors Gesang klingt irgendwie nach 80s-Rock, irgendwie nach 2000er Emo. "Kerosene!" trieft dabei derart vor Coolness, dass der Track fast ins Kitschige abdriftet, aber eben nur fast.
13. Porridge Radio - Every Bad
Das Debüt-Album der Post-Punk Band aus Brighton behandelt und verarbeitet die Angst aus Teenager-Jahren und die Unsicherheiten des langsam-aber-sicher-Erwachsenwerdens gleichermaßen. Der Sound ist noisy, repetitiv, wütend und ehrlich. Sängerin und Gitarristin Dana Margolin singt mit einer Verzweiflung in der Stimme und spielt mit einer Expressivität, die man ihr direkt abnimmt und die einen nicht kaltlassen kann.
12. Tom Misch & Yussef Dayes - What Kinda Music
Eine der coolsten Kollaborationen des Jahres ist dieses über Blue Note veröffentlichte Contemporary Jazz-Album von Multiinstrumentalist/Sänger/Producer Tom Misch und Drummer Yussef Dayes. Die Songs sind mal funky und treibend, mal super laid-back, wie bei der vorab veröffentlichten Single "Night Rider" featuring Freddie Gibbs. Zusammengehalten von den unkonventionellen und sehr präsenten Drum-Patterns von Yussef Dayes, inspiriert von Jazz, Hip-Hop und elektronischer Musik. Ein Album, das ich in diesem Jahr immer wieder gerne aufgelegt habe.
11. Jay Electronica - A Written Testimony
Man wagte kaum noch zu hoffen, dass dieses Album jemals kommen würde. Immerhin hat Jay Electronica schon 2007 sein erstes Mixtape herausgebracht, doch erst dieses Jahr, im Alter von 43 Jahren sein Debüt-Album veröffentlicht. Außerdem wirkt es eigentlich wie ein Kollabo-Album mit Jay-Z, schließlich taucht dieser auf acht der zehn Songs auf, ohne als Feature-Gast angegeben zu sein. Als wäre das noch nicht genug der Ungereimtheiten, wurde 2020 auch noch der Nachfolger seines ersten Mixtapes Act II: The Patents of Nobility zunächst geleakt, dann exklusiv auf Tidal veröffentlicht und dort schließlich wieder entfernt. In all dem Durcheinander scheint es, als wäre die Musik auf A Written Testimony fast untergegangen. Dabei handelt es sich hierbei um ein mehr als stabiles, oldschooliges Hip-Hop Album, auf dem Jay Electronica mit seinen ausgefeilten Rap-Skills sogar Seite an Seite neben Jay-Z zu glänzen weiß.
10. 070 Shake - Modus Vivendi
Die 23-jährige Rapperin und Sängerin, die bei Kanye Wests GOOD Music-Label gesignt ist und schon auf Ye und Daytona mitgearbeitet hat, hat auf ihrem Debüt-Album mit Songs wie "Morrow" oder "Guilty Conscience" ein paar der eingängigsten und melancholischsten Hip-Hop/Pop-Tracks des Jahres abgeliefert. Ihr unverwechselbarer Stil lässt mich freudig erwartungsvoll auf zukünftige Projekte zurück.
9. Phoebe Bridgers - Punisher
Phoebe Bridgers ist schon seit ein paar Jahren ein viel beachtetes Mitglied der Indie-Rock Szene, spätestens seit ihrem Debüt Stranger in the Alps von 2017 und der boygenius EP von 2018 mit Julien Baker und Lucy Dacus. Punisher gehört nun wahrscheinlich zu den Indie Alben, über die in diesem Jahr am meisten gesprochen wurde und taucht in unzähligen Jahresendlisten auf. Zurecht, klingt ihr ganz eigener Songwriting-Stil auf ihrem zweiten Soloalbum doch am ausgereiftesten und authentischsten bisher. Ihre Songs sind sehr häufig von ihren ganz persönlichen Erfahrungen inspiriert, aber in jedem Fall fühlt man sich als Hörer*in angesprochen und ihre Erzählungen wirken einfach unglaublich relatable. Ihre nachdenkliche, stream-of-conscious folgende Erzählweise lässt einen sehr direkt teilhaben an ihrer Gefühls- und Gedankenwelt und ihre Sadgirl-alone-at-home Ästhetik ist besonders in diesem Jahr sehr nachvollzieh- und fühlbar.
8. Adrienne Lenker - songs
Adrienne Lenker ist für mich eine der herausragendsten Songwriter*innen unserer Zeit. Und außerdem eine der fleißigsten. 2019 hat sie noch zwei (!) hochgelobte Alben mit ihrer Band Big Thief geschrieben und aufgenommen, und dieses Jahr meldete sie sich aus dem Lockdown mit dieser Kollektion von Solo-Songs zurück, im Doppelpack erschienen mit einem Ambient-Album namens instrumentals. Das Projekt ist ganzheitlich in einer abgelegenen Hütte in Massachusetts entstanden, herausgekommen sind sehr persönliche und intime Songs voller Schwermut und Nachdenklichkeit. Sie selbst sagt über das Projekt, dass es wie das Innere einer Gitarre klingen soll. Kaum ein Album fängt die so schwer zu fassende Gefühlswelt von vielen Menschen im Jahr 2020 so gut ein.
7. Idles - Ultra Mono
Auf ihrem dritten Album versuchen die Idles, einen Schritt weiter vom Sound von Joy As An Act Of Resistance zu gehen und versuchen sich an düsteren, teilweise zur Unkenntlichkeit verzerrten Sounds, wie auf "Grounds" oder "War". Aber auf den meisten Tracks nutzen sie das Rezept, das die Band aus Bristol in den vergangenen Jahren perfektioniert hat und setzen genau dort an, wo der Vorgänger aufgehört hat: Schnelle Gitarrenriffs, treibende und aggressive Drums und Bass und scharfe Lyrics voller Sozialkritik, Street-Smartness und Wut. Mit diesem Album zeigen sie, dass sie nach wie vor eine der spannendsten, weil kompromisslosesten und schlauesten, Bands aus Englands pulsierender Post-Punk Revival Szene sind.
6. Freddie Gibbs & The Alchemist - Alfredo
Freddie Gibbs hält nach wie vor die Gangsta-Rap Fahne hoch und hat sich mit Producer The Alchemist zusammengetan, um dieses kompakte Projekt aufzunehmen. Man mag das Ganze monothematisch nennen, aber Freddie Gibbs atemlose Staccato-Flows machen einfach zu viel Spaß beim zuhören. Bars on Bars on Bars. Die Produktionen von The Alchemist sind wie erwartet on Point, voller Lofi Samples, scheppernder Drums und abstrakter instrumenteller Interludes. Auch die relativ kurze Laufzeit tut dem Album gut, so gibt es keine Füller-Tracks, wie es noch auf Gibbs vorangegangener Kollaboration Bandana mit Madlib durchaus wirken konnte.
5. The Koreatown Oddity - Little Dominiques Nosebleed
Experimentell, Underground, herausfordernd - dieses Album ist wie ein Trip, manchmal verstörend aber sehr oft sehr lustig. Dominique Purdy rappt dabei entweder locker erzählend über einlullende jazzy Beats oder stolpert über chaotische und laute Instrumentals. Dabei berichtet er von mehreren Autounfällen, die er als Kind erleben musste und die ihn nachhaltig geprägt haben, von den Folgen und seiner Sicht auf das Leben und die ganz großen Themen heutzutage. Er klingt mal zynisch und abgeklärt, mal melancholisch, aber verliert nie seinen Humor und sein Charisma. Herausgekommen ist das vielleicht verrückteste Hip-Hop-Konzeptalbum des Jahrs.
4. Mac Miller - Circles
Das posthum veröffentliche Album offenbart der Welt eine zuvor unbekannte Seite des 2018 verstorbenen Rappers. Es funktioniert wie ein zweiter Teil zu seinem 2018er Album Swimming und wirkt kaum noch wie ein Hip-Hop Projekt, viel mehr wie ein Singer-Songwriter Album eines vielseitigen und herausragenden Musikers. Wie viel Talent nach wie vor in ihm steckte und wie er sich auf seinem sechsten Album wieder neu erfinden konnte, zeigt sich auf den zwölf ehrlichen und intimen Songs einmal mehr. Mac Miller verabschiedete sich darauf fast vollständig vom Rappen und schrieb einige der schmerzvollsten Songs seiner Karriere. Themen wie Depressionen und Tod in seinen Lyrics sind heutzutage schwer zu ertragen, aber selbst hier schafft es Mac Miller, seinen unerschütterlichen Grundoptimismus nicht zu verlieren und weiter zu transportieren: "There\"s a whole lot more for me waiting on the other side".
3. Denzel Curry & Kenny Beats - Unlocked
Unlocked ist nur 17 Minuten lang und mehr braucht es für Denzel Curry und Kenny Beats nicht, um alle Hörer*innen erstmal sprachlos zurückzulassen. Ob es sich dabei um eine EP oder doch ein Album handelt, scheint nicht abschließend geklärt zu sein, ist aber auch egal. Die acht Songs sind ein Knaller nach dem anderen, ohne Atempause rappt Denzel sich in Rage und Kenny Beats untermalt seine Parts mit unkonventionellen und schrillen Instrumentals. Denzels Stimme wird mal hoch- und mal runtergepitcht, die Tracks sind im Schnitt kaum länger als zwei Minuten. Hauptsache es knallt. Kein anderes Projekt hat 2020 so viel Spaß gemacht.
2. Run The Jewels - RTJ 4
Killer Mike und El-P legen als Kritikerlieblings-Rap-Supergroup Run The Jewels mit dem vierten Teil ihrer Kollaboration ihr bisher möglicherweise ausgefeiltestes Album vor. Sie veröffentlichten es vorzeitig auf dem Höhepunkt der Black-Lives-Matter-Proteste im Juni und lieferten so den Soundtrack für das politische Klima des Sommers. Die beiden Rapper zeigen ihren Frust über die vielen gesellschaftlichen Missstände in ihren messerscharfen Lyrics derart differenziert und auf den Punkt, dass man manche ihrer Lines einfach auf Pappschilder schreiben und hochhalten möchte.
1. Fontaines DC - A Hero‘s Death
Fontaines DC haben mit ihrem zweiten Album eine beeindruckende musikalische und artistische Entwicklung hingelegt und ihr bereits unglaublich gutes 2019er Debüt Dogrel in meinen Augen übertroffen. War ihr erstes Album noch eher an traditionelle Post-Punk Sounds gebunden, wagten sie mit A Hero\"s Death einen weiten Schritt nach vorne und klingen düsterer, schwerer aber auch intelligenter und erwachsener als je zuvor. Die Band transportiert eine unglaublich elektrisierende Energie und klingt an mancher Stelle mit den prägnanten Basslines, treibenden Drums und dunklen Gitarrensounds fast ein bisschen nach Joy Division. Sänger Grian Chatten schreibt seine Songtexte wie Gedichte, die er über die wummernden Instrumentals mit derart viel Swagger, Selbstvertrauen und Weltschmerz vorträgt, dass auch er hier an Ian Curtis oder den jungen Morrissey erinnert. Die fünf Jungs aus Dublin haben mit diesem Album ihren eigenen Sound gefunden, der sie noch einmal von Großbritanniens Post-Punk Revival Szene abhebt, und präsentieren sich als eine der aktuell coolsten Bands der Welt. Mein persönliches Album des Jahres.
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